Geleitwort zum 25-jährigen Gemeindejubiläum

I

Der Reformator Johannes Calvin hat ein umfangreiches, bedeutendes theologisches Werk ge- schrieben. Es trägt den Titel: "Institutio Christianae Religionis" - zu deutsch: "Unterricht in der christlichen Religion". Im vierten Buch seiner Institutio spricht Calvin "von der wahren Kirche, mit der wir die Einheit halten müssen, weil sie die Mutter aller Frommen ist". Er nennt die Kennzeichen der Kirche - also das, was die Kirche zur Kirche Jesu Christi macht und woran man die Kirche erkennt; und er führt dann aus, daß die christliche Lehre Sätze und Aussagen enthalte, die zu kennen notwendig sei, so daß sie "bei allen unerschütterlich und un- zweifelhaft feststehen müssen, gleichsam als die eigentlichen Lehrstücke der Religion". Er rechnet dazu Aussagen wie: "Es ist ein Gott; Christus ist Gott und Gottes Sohn; unser Heil besteht in Gottes Barmherzigkeit und andere Aussagen gleicher Art". Calvin stellt weiter fest, daß es andere Lehrstücke gibt, "über die unter den Kirchen Meinungs- verschiedenheiten herrschen, die aber die Einheit im Glauben nicht zerreißen".

Dies ist ein Hinweis auf die Kirche in ihrer vielfältigen Gestalt bzw. auf die Vielfalt der Kirchen. Diese Vielfalt muß in einem Zusammenhang gesehen werden mit der "einen wahren Kirche", mit dem "Eins-Sein der Kirche" und mit der "Einheit im Glauben". Tatsächlich gibt es unterschiedliche Überlieferungen und Konfessionen der einen "Guten Nachricht" Gottes, die jeweils ihre historische Gestalt gewonnen und entwickelt haben und die durchaus nebeneinander und miteinander existieren können. Denn verschiedene kirchliche Traditionen müssen die Einheit im Glauben nicht gefährden, sondern können das ökumenische Miteinander und die Vielfalt des Gotteslobes und des Gemeindelebens fördern.

Von diesem Grundverständnis von der Vielfalt der Kirchen ausgehend ist die Existenz einer "nach Gottes Wort reformierten Kirche" sowie das Festhalten und die Aktualisierung der reformierten Konfession und Tradition in der Großstadt München mit ihren vielen Kirchen sinnvoll und nützlich: die 'reformierte Stimme' in der Ökumene, der Beitrag der Reformierten zur Gemeinschaft der Kirchen.

Da geht es dann z.B. um den Gottesdienst als Predigtgottesdienst, also darum, daß der Glaube nicht aus dem Sehen, sondern aus dem Hören des zugesprochenen Wortes kommt. Um die Tradition des Psalmengesang geht es ebenso wie um die Beachtung des Bilderverbots und um die Gebote Gottes als Hilfe zur christlichen Lebensgestaltung. Zu denken ist an die Verfassung der Kirche und daran, daß die Kirchen-Ordnung das Bekenntnis der Kirche und der Glaubenspraxis wiederspiegeln bzw. beidem entsprechen muß. Zu denken ist an die kollegiale Form der Gemeindeleitung und an die Bedeutung der Synode als Leitung der Kirche. Zu denken ist ferner an bekannte Katechismen und an die schmucke, schlichte Gestaltung der Gottesdienststätten, die keinen Altar, sondern einen Abendmahlstisch kennen - das alles und anderes mehr sind traditionelle "reformierte" Elemente, die auch heute noch auf dem gemeinsamen Weg der Kirchen ihr Gewicht haben.

Ich nenne drei Beispiele:

a) Was bedeutet die "reformierte" Beachtung des Bildverbots angesichts der Diskussion über die Bedeutung des Kruzifix?

b) Welche Maßstäbe setzt das Gebot Gottes - nicht nur für das Leben des Einzelnen, nicht nur für das Leben der Gemeinde, sondern auch für das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft?

c) Was bedeutet die Heraushebung von Wort und Sprache angesichts heutiger Bilderflut?

Eine reformierte Gemeinde will allerdings nicht nur alte Traditionen in der Erinnerung wach halten und ins ökumenische Gespräch einbringen. Eine "nach Gottes Wort reformierte" und dementsprechend eine reformbereite Gemeinde kann beweglich sein, jedenfalls beweglich genug, um auf veränderte gesellschaftliche Prozesse offen, schriftgemäß und zeitgerecht zu reagieren.

II

Die Ev.-ref. Gemeine München II feiert ihr 25jähriges Jubiläum. 25 Jahre ist es her, daß die Reformierten in Bayerns Hauptstadt sich geteilt haben: in München I und München II. Eine reformierte Gemeinde in der Diaspora muß sich so organisieren, daß sie erkennbar, über- schaubar und anwesend bleibt. Das Gebiet der Gemeinde München II, das mit "rechts der Isar" umschrieben wird, ist auch nach der Teilung immer noch groß.

In der Gründungsurkunde aus dem Jahr 1970 heißt es: "... die neu gebildete Kirchengemeinde wird wie folgt begrenzt: im Westen durch die Isar, im Norden durch die Bundesstraße 11 bis Bayerisch Eisenstein, im Osten und Süden durch die Staatsgrenze zur CSR und zu Österreich". München II ist - wie die andern reformierten Gemeinden in Bayern auch - eine Gemeinde der Verstreuten Reformierten: Menschen, die als "Evangelisch-reformiert" eingetragen sind, die sich auch so verstehen, die mit der reformierten Tradition in Verbindung bleiben wollen und die es nicht leicht haben, in dieser Diasporasituation auch wirklich eine reformierte Gemeinde zu sein. Das Zusammenleben mit den lutherischen Schwestern und Brüdern "vor Ort" ist eine Selbstverständlichkeit. Die Mitwirkung in ökumenischen Arbeitskreisen oder bei den Gebetswochen zur Einheit der Christen auch.

Viel Fantasie wird nach wie vor nötig sein, um die Verbindung zu den Gemeindegliedern aufrecht zu erhalten und immer wieder Begegnungsmöglichkeiten der Gemeindeglieder untereinander zu schaffen. Dabei ist nicht nur an den Gottesdienst oder an persönliche Begegnungen zu denken (Hauskreise, Freizeiten, Gemeindetage, Seelsorgebesuche), sondern auch an Kontakte durch das geschriebene Wort (Gemeindebriefe, Briefgrüße zu den persönlichen Jubiläen).

Die Existenz in der Diaspora stärkt das Bewußtsein dafür,

  • im Blick auf den Gemeindeaufbau zwischen Wichtigem und weniger Wichtigem zu unterscheiden;
  • im Blick auf die Tradition nach dem Wesentlichen und nach dem eigenen Beitrag innerhalb der Ökumene zu fragen;
  • im Blick auf die Weggemeinschaft mit anderen Kirchen immer wieder sich bewußt zu machen, daß keine Kirche und keine Konfession für sich allein existiert;
  • im Blick auf die Zukunft der Kirche sich nicht auf kirchliche Obrigkeit verlassen zu müssen, sondern selbst - als eigene Gemeinde - zu überlegen und zu entscheiden, was zu tun ist.

Als 1970 die Gemeinde gegründet wurde, wurde von der Synode der Evangelisch-reformierten Kirche in Bayern beschlossen, zunächst eine Montagekirche zu errichten - also eine "vorläufige" Kirche. Dies geschah in der Absicht, um zu sehen, wie sich die Gemeinde entwickelt und was die Gemeindeglieder aus ihrer Gemeinde "machen". Da wird etwas von der Eigeninitiative der Gemeinde spürbar - und davon, daß eine Gemeinde ohne lebendige Glieder nicht sein kann. Ohne die Kraft des Heiligen Geistes, der die Menschenherzen erfüllt, allerdings auch nicht.

Mit den Kirchengemeinden der Ev.-ref. Kirche wünsche ich der Gemeinde München II Gottes Segen und ein gutes, gedeihliches Gemeindeleben. Ich wünsche der Gemeinde, daß sie in wechselvollen Zeiten Gottes gute Botschaft weitersagen und weitertragen kann; und daß sie eine einladende Gemeinde ist, die für fragende und suchende Menschen offensteht. Möge das 25. Jubiläum der Gemeinde eine kräftige Ermutigung sein für die kommenden Tage und Jahre!

Kirche innen

Kirchenzentrum außen